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Mythos "Härte"

Mythos "Härte"

Weder milde noch strenge Urteile beeinflussen die Zahl der Straftaten

Von Georg Wagner

1    Vier junge Burschen sahen an einsamer    der ersten gerichtlichen Vorladung:
 Stelle einen schlafenden Obdachlosen, ein65 schädigende Kleinkind- und Familien-
 "geeignetes Objekt". Sie trampelten auf erziehung, ungünstige Einflüsse im
 Kopf, Körper und Genitalien herum, unmittelbaren Umfeld, in Kindergarten und
5 pausierten eine Stunde und setzten die Schule, frühe Arbeitslosigkeit und
 Tortur dann fort, bis der Mann tot war. In bedenkliche Medieneindrücke wirken schon
 Stralsund wurden drei der Täter (ein 15-,70 lange. Längeres Einsperren allein nützt
 16- und ein 19-Jähriger) verurteilt. Einige selten und fügt bestehenden Schädigungen
 Monate später verletzte eine Clique junger vielfach weitere hinzu.
10 Neonazis mitten in München auf ähnliche6    Strafverfolgung und Straffälligkeit
 Weise einen Griechen schwer. Den halb tot stehen in einem schwer durchschaubaren
 Geschlagenen retteten zwei zu Hilfe eilende75 Wechselverhältnis. So wurde im Jahr 1987
 junge Türken. in Jugendstrafverfahren mit 127 Fällen von
2    Derart brutale Verbrechen machen Rufe Mord und Totschlag ein zweifelhafter
15 nach strengerer Strafverfolgung emotional Rekord aufgestellt. Das Niveau blieb
 verständlich. Dennoch muss die Frage zunächst hoch. Doch zwischen 1990 und
 erlaubt sein, ob eine solche Verschärfung80 1992 sackte es um 31 Prozent auf etwa 81
 auch sinnvoll ist. Auf den ersten Blick Fälle ab. Mit der Wiedervereinigung stieg
 scheint sich das Jugendstrafrecht für solche die Zahl der zwischen 1993 und 1998
20 Nachbesserungen anzubieten: Die festgestellten Verfahren, in denen es um
 Höchststrafe beträgt "nur" zehn Jahre. Das vorsätzliche Tötung ging, zwar um
 Aufleben rechtsextremer Gewalt ist so nicht85 durchschnittlich 1,3 Fälle. Im Verhältnis zu
 von ungefähr Anlass, Verschärfungen der um etwa 16 Millionen höheren
 einzufordern. Einige Bundesländer haben Bevölkerungszahl war dies aber prozentual
25 "mit dem ausdrücklichen Ziel, eine effektive ein erheblicher Rückgang von Mord und
 Bekämpfung des Rechtsextremismus zu Totschlag seitens junger Täter. Die gängige
 ermöglichen", Gesetzesinitiativen zur90 Vorstellung, dass härtere Strafen die
 Verschärfung des Jugendstrafrechts Kriminalität senken, deckt sich nicht mit der
 eingebracht. Realität. Das Jugendgerichtsgesetz war 1998
330    1999 begann die bayerische so milde oder streng wie 1987. Der
 Staatsregierung den Reigen. Sie möchte die Rückgang der Tötungsdelikte von 1987 bis
 Höchststrafe von 10 auf 15 Jahre erhöht und95 1998 ist deshalb ein nicht von straf-
 das Erwachsenenstrafrecht schon bei 18- bis rechtlichen, sondern von anderen Ursachen
 21-jährigen Heranwachsenden regelmäßig bestimmter, relativ selbstständiger Vorgang.
35 angewendet sehen - bislang ist dies bei etwa7    1999 wurden laut Verfassungs-
 40 Prozent der Fall. Nachdem keine schutzbericht "10 037 Straftaten mit
 Bundesratsmehrheit für diesen Vorstoß100 erwiesenem oder zu vermutendem
 zustande kam, legten Thüringen, Baden- rechtsextremistischen Hintergrund erfasst,
 Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, davon 746 Gewalttaten". Die Zahlen aller
40 nochmals Bayern, die Fraktion der nach der Kriminalstatistik 1999 bekannt
 CDU/CSU im Bundestag sowie eine Gruppe gewordenen Straftaten belaufen sich auf
 konservativer Abgeordneter weitere Anträge105 über 6,3 Millionen, die für Gewalt-
 nach. kriminalität auf mehr als 180 000. Dieser
4    Wie ist von der Sache her eine Vergleich zeigt, wie wenig rechtsextrem
45 Verschärfung des Jugendstrafrechts als motivierte Straftaten es im Vergleich zur
 Antwort auf rechtsextreme Gewalt zu allgemeinen Kriminalität gibt. Trotz deren
 beurteilen? Ein Vergleich mit dem110 bedrohlicher politkrimineller Virulenz
 Erwachsenenstrafrecht liegt nahe. 1998 erscheint eine Verschärfung des
 wurden viele gesetzliche Strafandrohungen Jugendstrafrechts nicht als gerechtfertigt.
50 angehoben. Von zehn Prozent längeren Selbst angesichts der im Jahr 2000 noch
 Freiheitsstrafen und Tausenden zusätzlichen einmal angewachsenen Zahl rechtsextremer
 Haftjahren sprechen Fachleute. Wo früher115 Gewalttäter würde sie grundlos den weitaus
 ein Gefangener den ihm gesetzlich größeren Anteil an Jungtätern ohne
 zustehenden Haftraum bezog, werden heute rechtsextremistischen Hintergrund härter
55 oft zwei auf zehn Quadratmetern zusammen- treffen.
 gepfercht. Der Ausbau von zehntausend 
 zusätzlichen Haftplätzen ist geplant. Wie Der Autor ist Honorarprofessor für
 andere EU-Staaten und die USA zeigen, Forensische Psychologie. Er war lange im
 läuft derartige Strafverschärfung selbst bei Strafvollzug tätig, unter anderem als Leiter
60 extensivem Gefängnisausbau auf dauerhaft einer Jugendabteilung.
 überbelegte Vollzugsanstalten hinaus. 
5    Die Konfliktgeschichte der meisten Süddeutsche Zeitung
 jugendlichen Angeklagten beginnt lange vor